Link Bilder Link Ausstellungen Link Biographiee Link Kataloge Link Kontakt
 

über Christine Nehammer-Markus

 
Lippen

Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.
Paul Klee

images [imaʒ]
Etymologisch geht der Begriff image zurück auf das lateinische Wort imago: Bild, Büste, Gemälde, Portrait, Ahnenbild, Wachsmaske, Ebenbild, Schatten-, Traum-, Trug- und Scheinbild, Vorspiegelung, Anblick, Gestalt, bildliche Darstellung, Gleichnis, Metapher, Einbildung, Erscheinung etc.
Mittels dieser Begriffe kann man sich den Bildern von Christine Nehammer-Markus nähern, die vom Aufbau her palimpsestisch und vielschichtig sind. Im Laufe ihres Oeuvres hat die Künstlerin ihre eigene Bildsprache entwickelt, in der wiederholt Symbole wie florale Elemente, Gesichter, Lippen etc. eingesetzt werden.

Das Gesamtbild ist das einer femininen Künstlerin, deren images Einblicke und Zugang zu ihrer persönlichen Welt und Weltsicht gewähren. Trotz der gegenständlichen symbolhaften Zeichen wird jeder Betrachter ein anderes Bild wahrnehmen, denn der griechische Begriff σύμβολον (symbolon) bezeichnet einen in zwei Teile zerbrochenen Gegenstand, der durch das Zusammenfügen ganz und ein Erkennungszeichen wird; das Zeichen wird erst durch die Betrachtung (und die Erfahrungen der Rezipienten) zum Ganzen, zum Symbol. Die images ermöglichen einen direkten Kontakt mit der Künstlerin, eine direkte Konfrontation mit der Malerei, ohne erklärende Bildtitel.

Der zweite Begleiter in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Christine Nehammer-Markus ist Philostratus der Ältere, der Begründer der Kunstbetrachtung. In seinem Buch imagines (3. Jahrhundert nach Christus) beschreibt er einen Aufenthalt in Neapel und das Zusammentreffen mit dem Sohn seines Gastgebers. Beim Betrachten von Wandgemälden fragt ihn der zehnjährige Junge nach der Bedeutung dieser imagines. In der Folge und durch das ganze Buch hindurch spricht Philostratus das Kind an, erklärt ihm und dem Leser die Kunst. Seine Stimme klingt die Jahrtausende überspannend bis zu uns und demonstriert, wie kinderleicht es ist, dieSchönheit der images von Christine Nehammer-Markus für sich zu entdecken.

Carmen Petrosian-Husa, 2013
 

Paradies der Lippen
Er sah nur runde Lippen, die wie Muscheln geformt waren. Ob das natürliche Lippen oder ob das bemalte Lippen waren, der man eine Muschelform gegeben hat, fragte er sich. Er liebte Muscheln über alles, und für ihn war es sehr wichtig zu wissen, ob muschelförmige Lippen in der Natur vorkamen. Er hatte sich eine falsche Frage gestellt. Dies waren Lippen, die so entstanden waren, man hatte die Lippen bemalt, das ist wahr, doch jemand hatte diesen Lippen diese wunderschöne Form gegeben, die in der Natur entstanden waren.
Caroline Vopava

 

Vier Personen, die sich ihre Lippen mit viel Lippenstift angestrichen haben, küssen das Blatt Papier, das vor ihnen auf dem Tisch liegt. Zwei von ihnen haben einen sehr guten Lippenstift verwendet, viel Farbe ist auf dem Papier sichtbar. Die eine Person meint, dass man die Liebe sehen könne, die andere ist der Meinung, dass es sich weder um etwas Sinnliches, noch um etwas Erotisches handle, sondern einfach um eine ästhetische Form. Die dritte und die vierte Person sind auch der Ansicht, dass es sich bei den Lippen um eine ästhetische Form handelt. Schmale Lippen, breite Lippen, geformte Lippen, sie sind ein Abbild der Schönheit des Lebens, der Natur vor allem, sie sprechen vielleicht von der Liebe, von den Dingen, die wirklich wichtig sind. Natürlich zwingen die abgebildeten Lippen dem Betrachter ihr Vorhandensein auf, doch der Betrachter akzeptiert dies still.
Caroline Vopava

 

Ein Teil der Vollkommenheit hat damit zu tun.
Küssen sie mich, sagte sie zu einem fremden Mann, aber küssen sie mich auf den Mund. Der Mann zögerte, er kannte die Frau nicht sehr gut. Doch als er ihr eine Weile in das Gesicht sah und ihren Mund sah, wusste er, dass er die Frau küssen musste, er musste ihre Lippe auf seinen Lippen spüren und er musste sie fühlen und riechen. Sie stand oben an Deck eines Schiffes. Sie hatte die eine Hand am Geländer. Ihr blaues Kleid mit weißen Blumen darauf wurde vom Wind hin und her und um sie herum gewirbelt. Einmal kam ein so heftiger Windstoß, der ihr Kleid ganz nach oben wirbelte, so dass man ihren nackten Körper sehen konnte, doch es gab keine Zuseher und wenn doch, so gab es trotzdem keine erstaunten oder verächtlichen Blicke. Der Mann küsste sie noch immer an der gleichen Stelle. Sie unterbrach den Kuss und blickte nach rechts weit auf das Meer hinaus. Ich konnte ihre schönen rosa-orange-roten Lippen sehen.
Caroline Vopava

Leinwände wirft man nicht weg.
Christine Nehammer-Markus 2013

Sprich man Christine Nehammer-Markus auf den Inhalt ihrer Bilder an, so bezeichnet sie die oftmalige Wiederholung von Motiven auf ihren Bildern als Metapher für den Alltag. "Das oft Gleicherscheinende ist niemals gleich. Ein Tag wiederholt sich und ist doch immer anders." Mit dieser Aussage postuliert Christine Nehammer-Markus selbst das Serielle in ihren Arbeiten zum Symbol. Hauptmotiv in ihren großen Arbeiten ist die Darstellung der Frau. Mit Hilfe einer Schablone aus den 50er Jahren trägt sie eine Figur seriell auf, färbt sie ein und ändert sie jedesmal geringfügig. Bei diesen Darstellungen handelt es sich nicht um Allegorien, sondern um Symbole ihrer und aller Weiblichkeit: Symbole für die Gefühle, Bedürfnisse und Hoffnungen, die durch Worte nicht beschrieben werden können.
Andreas Lebschik, 1998

 

"Tut mir schrecklich leid", sagte sie mit schmallippig zuckendem Mund, aber ihr ganzes Warten war umsonst. Dashiell Hammet
Rot, natürlich rot sind die Abdrücke der Lippen. Flüchtig wird den Spuren Kontur verliehen, suchen Striche die ausgefransten Münder zu fassen – Striche die mehr wollen, als nur den Umriß zu markieren, Striche die nur hervorheben, nicht korrigieren.
Die Ungewissheit um das Gegenüber gibt Anlass zur Unruhe: "Auch wenn mir freilich allerhand Feinheiten entgehen, so hege ich doch Zweifel – nicht dies oder jenes betreffend, sondern ganz generell."
Markus Mittringer

Die Wiederverwendung von Leinwänden ist in der Kunstgeschichte bestens dokumentiert. Meist wurden die alten Werke vor der Grundierung ausgelöscht und neue Bilder entstanden darüber. Dies ist bei Christine Nehammer-Markus' Bildern aus dem Jahre 2013 nicht der Fall; hier handelt es sich um alte Bilder oder Leinwände, welche abgewaschen und -geschruppt worden waren, bevor sie die neuen Bilder direkt, also ohne Grundierung, darüber malte. Die Definition eines Palimpsests ist damit genau erfüllt:

Ein Palimpsest ist eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite oder -rolle, die beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde. Es ist der Vorgang des Wiederbeschreibens, den man . . . als Palimpsestieren bezeichnet. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Palimpsest

Das berühmteste Palimpsest ist der Kodex des Archimedes, wobei Archimedes' Text Über schwimmende Körper mit einem christlich liturgischen Text überschrieben wurde. 1924 entwickelte Sigmund Freud in seiner Notiz über den Wunderblock ein palimpsestierendes Modell des menschlichen Gehirns, wobei Spuren aller früheren Eindrücke als unsichtbare Vertiefungen erhalten bleiben. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Technik des Palimpsestierens als Metapher für geistige und kreative Prozesse verwendet.

Damit sind wir wieder bei den Palimpsesten von Christine Nehammer-Markus. Hier sind mehr als 20 Jahre alte Arbeiten der Untergrund auf welchem die neuen Bilder oder Palimpseste gemalt werden, und beeinflussen damit in mehrfacher Hinsicht die Gestaltung der neuen Arbeiten, indem sie den Schaffensprozess beeinflussen und oftmals als Untergrund noch sichtbar sind. Gleichzeitig ist solch ein Untergrund die Vergegenständlichung der künstlerischen Entwicklung von Christine Nehammer Markus, als Element der Vergangenheit stellen sie die Verbindung zur Gegenwart dar und damit den Weg zu ihrer heutige künstlerischen Sicht und Ausdrucksweise. In den Palimpsesten von Christine Nehammer-Markus sind somit nicht nur die ausgewaschenen sichtbaren Spuren alter Arbeiten  enthalten, sondern auch die 'unsichtbaren Vertiefungen' ihres künstlerischen Werdeganges.
Carmen Petrosian-Husa, 2013